Retrospektive & Kaufratgeber: Jaguar XJ (X351) – Die verkannte Avantgarde-Limousine

Jaguar XJ. Das war über 50 Jahre lang die Definition der britischen Luxuslimousine. Elegant, sportlich, anders als die deutsche Konkurrenz. Doch die letzte Generation (X351), die von 2009 bis 2019 gebaut wurde, brach radikal mit vielen Traditionen. Futuristisches Design statt Barock, Aluminium statt Stahl, digitale Instrumente statt Uhrenladen. Sie polarisierte, verkaufte sich mäßig und verschwand leise vom Markt. Ein geplanter elektrischer Nachfolger wurde sogar kurz vor knapp wieder eingestampft. Ein trauriges Ende für eine Ikone? Vielleicht. Aber gerade jetzt, als junger Gebrauchter, entfaltet der X351 einen ganz besonderen Reiz. War er seiner Zeit voraus? Und ist er heute die bessere Wahl als eine ausgelutschte S-Klasse? Eine Analyse mit Herz und Verstand.

Was genau war der letzte Jaguar XJ (X351)?

Der Jaguar XJ (X351) war eine Luxuslimousine der Oberklasse, verfügbar mit normalem (SWB) und langem Radstand (LWB). Er basierte auf einer weiterentwickelten Version der genieteten und geklebten Aluminium-Plattform des Vorgängers (X350/X358). Angetrieben wurde er von V6-Diesel-, V6-Kompressor- und V8-Kompressor-Benzinmotoren, primär mit Heckantrieb (AWD selten und nur für V6 Benziner).

Dieser XJ war ein Schock für die Traditionalisten. Wo waren die vier Rundscheinwerfer? Die geschwungene Linie? Stattdessen diese flache Front, die pechschwarzen C-Säulen, die vertikalen Heckleuchten. Das war Ian Callum auf dem Höhepunkt seines Schaffens – Avantgarde pur! Manche hassten es, ich fand’s genial. Endlich Staub weggeblasen! Und unter dem Blech? Konsequenter Leichtbau dank Aluminium-Karosserie. Das machte ihn (relativ) leicht und agil für seine Größe. Innen? Auch eine Revolution. Digitale Instrumente schon 2009! Riesiger Touchscreen (spätere Updates brachten bessere Systeme), diese Yacht-artige Atmosphäre mit viel Holz und Leder. Er wollte anders sein, moderner, jünger als S-Klasse, 7er oder A8. Ein mutiger Wurf. Vielleicht zu mutig für die konservative Jaguar-Kundschaft?


Warum wurde er eingestellt und der E-Nachfolger gestrichen?

Die Produktion des XJ (X351) endete 2019 aufgrund sinkender Verkaufszahlen im Limousinen-Segment zugunsten von SUVs und der veralteten Plattform. Der bereits entwickelte rein elektrische Nachfolger wurde 2021 von JLR-Chef Thierry Bolloré als Teil der “Reimagine”-Strategie gestoppt, da er nicht den neuen, extrem hohen Luxus- und Exklusivitätsansprüchen der zukünftigen Marke Jaguar entsprach.

Zwei Todesstöße für den Namen XJ. Erst starb der Verbrenner leise weg, weil keiner mehr große Limousinen wollte (außer vielleicht S-Klassen als Leasing-Schnäppchen). Dann die Hoffnung auf den E-Nachfolger. Der war quasi fertig entwickelt! Auf der neuen MLA-Plattform. Sah angeblich fantastisch aus. Und dann? Zieht der neue Chef den Stecker. Begründung: Nicht exklusiv genug für das “neue” Jaguar, das ab 2025 nur noch ultrateure E-Autos (150.000 Euro aufwärts) bauen will. Peng! Das war’s. Eine fatale Entscheidung, meiner Meinung nach. Man hätte einen direkten Konkurrenten zum Taycan, e-tron GT, EQS gehabt. Stattdessen: Nichts. Der Name XJ – Geschichte. Zumindest vorerst. Ein Trauerspiel.


Welche Motoren gab es – Vernunft-Diesel oder Kompressor-Wahnsinn?

Die Motorenpalette umfasste über die Jahre verschiedene Optionen, alle mit Automatikgetriebe (meist ZF 6HP, später ZF 8HP).

  • 3.0L V6 Diesel (275 PS / später 300 PS): Der AJD-V6 (entwickelt mit Ford/PSA) war die Vernunftwahl und der meistverkaufte Motor in Europa. Drehmomentstark (600/700 Nm), relativ sparsam (Real um 8 Liter). Guter Kompromiss, aber eben ein Diesel. Frühe Modelle (bis ca. 2013/14) hatten teils Probleme mit Kurbelwellenbrüchen – unbedingt Historie prüfen!
  • 5.0L V8 Benziner (Sauger, 385 PS): Gab es nur in den ersten Jahren. Ein herrlicher, klassischer Saugmotor. Laufruhig, kraftvoll, aber durstig. Heute selten.
  • 3.0L V6 Kompressor Benziner (340 PS): Ersetzte später den V8-Sauger als “mittlere” Option. Bekannt aus F-Type & Co. Bietet guten Antritt und schönen Klang, ist aber auch kein Kostverächter (Real um 11-12 Liter). Gab es optional auch mit Allrad (AWD).
  • 5.0L V8 Kompressor Benziner (XJR / XJR575): Das absolute Highlight. Der AJ-V8 mit Kompressoraufladung leistete anfangs 510 PS, später 550 PS (XJR) und zuletzt 575 PS (XJR575). Brachiale Leistung, Gänsehaut-Sound, erstaunlich agiles Handling dank spezifischer Abstimmung. Eine viertürige Rakete im eleganten Kleid. Der technische Kompromiss? Verbrauch jenseits von Gut und Böse (15 Liter+). Aber wer fragt danach?

Welchen nehmen? Wenn’s vernünftig sein soll (und man die Diesel-Risiken späterer Baujahre eingeht), dann den 300 PS Diesel. Guter Kompromiss. Wenn das Herz entscheiden darf? Ganz klar: Der 5.0L V8 Kompressor! Egal ob mit 510, 550 oder 575 PS. Das ist die Essenz des sportlichen Jaguars. Der V6 Kompressor ist auch gut, aber eben kein V8. Und der Sauger? Schön, aber selten und alt. Also: Diesel für den Kopf, V8 Kompressor fürs Herz.

Zitat von Alex Wind: “Ein XJ ohne den Kompressor-V8 ist wie ein Pub ohne Bier. Geht irgendwie, aber das Beste fehlt. Wer kann, sollte sich den XJR gönnen – das ist britischer Muskel-Adel!”

Wie schlägt er sich als Gebrauchter bei Zuverlässigkeit und typischen Mängeln?

Der XJ X351 hat einen gemischten Ruf. Die Aluminium-Karosserie ist solide gegen Rost, aber Reparaturen sind teuer. Die ZF-Automatiken sind robust. Schwachpunkte liegen woanders:

  • Frühe V6 Diesel (bis ca. 2014): Risiko von Kurbelwellenschäden. Unbedingt nach Austauschmotor oder späterem Baujahr suchen!
  • Luftfederung (hinten Serie, vorne optional): Kann altersbedingt undicht werden (Kompressor, Federbälge). Teure Reparatur.
  • Elektronik: Das größte Sorgenkind. Infotainment (besonders das frühe System vor dem “InControl Touch Pro” Update ca. 2016) ist langsam, fehleranfällig. Bordelektronik (Sensoren, Steuergeräte) kann spinnen. Batterie-Management ist kritisch.
  • Wasserpumpen (V8 Kompressor): Können undicht werden.
  • Verarbeitung: Innenraum-Materialien sind top, aber die Detail-Verarbeitung war nicht immer auf deutschem Niveau. Knistern und Klappern möglich.

Fazit zur Zuverlässigkeit: Ein XJ ist kein Lexus LS. Er erfordert Liebe, Pflege und ein gut gefülltes Wartungs-Budget. Frühe Modelle (besonders Diesel) sind riskant. Spätere Modelle (ab 2016 mit InControl Touch Pro) sind besser, aber Elektronik-Probleme bleiben ein Thema. Kauf nur mit lückenloser Historie bei Jaguar oder Spezialisten und idealerweise mit Garantie. Es ist ein Auto für Liebhaber, nicht für reine Pragmatiker. Laut ADAC Pannenstatistik landete er oft auf den hinteren Plätzen. Das sagt eigentlich alles.

Ist der Innenraum immer noch eine Luxus-Lounge?

Das Interieur war bei seiner Einführung 2009 avantgardistisch und wirkt auch heute noch besonders. Das Yacht-Design mit dem umlaufenden Holzfurnier, die runden Lüftungsdüsen mit Klavierlack, die digitalen Instrumente – das hat Stil. Die Materialien (Leder, Holz, Chrom) sind hochwertig. Die Sitze sind bequem (optional mit Massage/Belüftung). Das Platzangebot ist gut, besonders in der Langversion LWB (Fond-Entertainment optional). Der Kofferraum ist mit ca. 520 Litern okay.

Ja, das Ambiente ist immer noch besonders. Es ist eben kein steriles deutsches Cockpit. Es ist britisch, opulent, vielleicht etwas verspielt. Die digitalen Instrumente waren ihrer Zeit voraus und sehen immer noch gut aus. Das Infotainment? Wie gesagt, die Achillesferse. Das spätere InControl Touch Pro (ab MJ 2016) ist deutlich besser als das Ursprungssystem, aber immer noch nicht so intuitiv wie iDrive oder MBUX. Und die Verarbeitung im Detail? Da findet man schon mal einen nicht perfekt sitzenden Schalter oder ein knarzendes Teil. Das ist eben Jaguar, nicht Audi. Aber das Gesamtgefühl? Sehr luxuriös, sehr besonders. Eine echte Alternative zur deutschen Nüchternheit. Gerade in der Langversion sitzt man hinten fantastisch.

Advokat des Teufels: Was sind die größten Haken beim Gebrauchtkauf?

Neben den Zuverlässigkeits-Risiken (Elektronik, früher Diesel) sind es:

  1. Hohe Unterhaltskosten: Versicherung (besonders V8), Wartung bei Jaguar/Spezialisten, Ersatzteile und der Verbrauch sind extrem teuer. Das ist Oberklasse-Niveau!
  2. Veraltetes Infotainment: Selbst das spätere System ist nicht mehr State-of-the-Art.
  3. Dünnes Servicenetz: Jaguar-Händler sind rar gesät. Kompetente freie Werkstätten für den XJ erst recht.
  4. Hoher Wertverlust: Als Gebrauchter günstig zu bekommen, aber der Wertverlust geht weiter. Kein Investment-Klassiker (noch nicht?).
  5. Reparatur Alukarosse: Schäden an der Alu-Karosserie können nur wenige Betriebe fachgerecht (und teuer!) reparieren.

Man muss wissen, worauf man sich einlässt. Ein XJ ist kein Vernunftkauf. Niemals.

Anekdote: Die schwebende Katze

Ich fuhr einen XJ LWB V6 Diesel als Chauffeur-Limousine für ein Event. Hinten drin saß ein Vorstand, der sonst nur S-Klasse kannte. Er war nach der Fahrt tief beeindruckt. Nicht von der (damals schon veralteten) Technik, sondern vom Fahrgefühl. Er sagte: “Der schwebt ja förmlich! Und diese Ruhe an Bord… viel angenehmer als in meiner S-Klasse.” Dieses subjektive Gefühl von entspanntem Luxus, dieses besondere Flair – das konnte der XJ. Das war seine Magie, jenseits aller rationalen Kritikpunkte.

Zukünftiger Ausblick: Wird der Name XJ jemals wiederkommen?

Offiziell hat Jaguar nur den geplanten elektrischen Nachfolger gestrichen. Ob der Name XJ damit endgültiig begraben ist oder ob er irgendwann in der ultraluxuriösen Elektro-Zukunft der Marke wieder auftaucht (vielleicht für ein noch größeres Modell oberhalb der kommenden Limousine?), ist reine Spekulation. Aktuell sieht es aber schlecht aus für den traditionsreichsten Namen der Marke. Ein Jammer.

Merkmal (ca. 6-8 Jahre alt)
Jaguar XJ LWB 3.0D (300 PS)
Mercedes S 350d L (W222)
BMW 740Ld xDrive (G12)
Audi A8 L 50 TDI (D4/D5)
Konzept
Luxuslimo LWB, Alu
Luxuslimo LWB
Luxuslimo LWB
Luxuslimo LWB, Alu
Motor
3.0L V6 Diesel
3.0L R6/V6 Diesel
3.0L R6 Diesel
3.0L V6 Diesel
Fahrgefühl
Agil & Komfortabel
Benchmark Komfort
Dynamisch & Komfort
Technisch & Komfort
Innenraum-Anmutung
Besonders, Stylisch
Sehr hochwertig
Sehr hochwertig
Sehr hochwertig
Infotainment
Veraltet
Gut (Comand)
Gut (iDrive)
Gut (MMI)
Zuverlässigkeit (Index)
Mittelmäßig
Gut
Gut
Gut
Preis (Index)
Attraktiv
Hoch
Hoch
Mittel

Fazit: Der letzte Jaguar XJ (X351) ist ein Auto mit zwei Gesichtern. Einerseits eine atemberaubend schöne, avantgardistische Luxuslimousine mit viel Charakter, tollem Fahrwerk (besonders mit V8) und einem einzigartigen Innenraum-Ambiente. Andererseits ein Auslaufmodell mit bekanntermaßen launischer Elektronik, teils problematischen frühen Motoren und hohen Unterhaltskosten. Als Gebrauchter ist er oft verlockend günstig zu haben. Wer das Design liebt, bereit ist, in Wartung zu investieren und ein Exemplar ab dem Facelift 2016 (mit InControl Touch Pro) und nachvollziehbarer Historie findet, kann hier eine echte Ikone ergattern, die aus der Masse heraussticht. Aber es ist ein Kauf mit Risiko. Eine Diva, die gepflegt werden will. Der letzte seiner Art – und vielleicht gerade deshalb so begehrenswert.

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