Jahrzehntelang war der Name Lotus ein Synonym für das genaue Gegenteil von dem, was hier vor uns steht. Lotus, das war Colin Chapmans Credo “add lightness” (füge Leichtigkeit hinzu), materialisiert in spartanischen, federleichten Sportwagen wie der Elise oder dem Exige. Jetzt, unter der Führung des Geely-Konzerns, präsentiert Lotus sein erstes SUV. Sein erstes Fünftürer. Sein erstes Großserien-Elektroauto. Der Lotus Eletre ist ein 2,6 Tonnen schweres “Hyper-SUV” mit bis zu 918 PS, das preislich und technologisch den Porsche Cayenne Turbo GT angreift. Nichts an diesem Fahrzeug erinnert an die Vergangenheit der Marke – außer dem Logo. Wir klären im Härtetest, ob dieser radikale Bruch ein genialer Schachzug zur Rettung der Marke oder der endgültige Verlust ihrer Seele ist.
Was ist der Lotus Eletre und für wen ist er gebaut?
Der Lotus Eletre ist ein 5,10 Meter langes Luxus-SUV der Oberklasse, das auf der neuen, skalierbaren 800-Volt-Elektroplattform (LEVA) des Geely-Konzerns basiert. Er ist die direkte Antwort auf Porsche Cayenne, Tesla Model X und den kommenden elektrischen Macan. Er richtet sich an eine globalisierte, extrem kaufkräftige Kundschaft, für die ein Lamborghini Urus zu protzig, ein BMW iX zu polarisierend und ein Tesla zu minimalistisch ist. Der Eletre-Käufer ist technikaffin, sucht maximale Performance und ein Design-Statement, hat aber mit der puristischen Lotus-Historie wenig bis gar nichts zu tun. Er kauft das Versprechen einer Sportwagenmarke im praxisnahen SUV-Format.
Welche Versionen gibt es und ist der “R” den Aufpreis wert?
Lotus bietet den Eletre in drei klar definierten Stufen an, die sich primär durch Leistung und Fahrwerks-Technologie unterscheiden.
Der Eletre (Basis) und der Eletre S bilden den Einstieg. Beide nutzen einen Dual-Motor-Allradantrieb mit 612 PS (450 kW) und 710 Nm Drehmoment. Das reicht für einen Sprint von 0-100 km/h in 4,5 Sekunden – ein Wert, der vor kurzem noch Supersportwagen vorbehalten war. Der “S” rechtfertigt seinen Aufpreis durch eine erweiterte Komfortausstattung (z.B. Soft-Close-Türen, 2.160-Watt-Soundsystem).
Der Eletre R ist das unangefochtene Topmodell und ein technisches Statement. Er leistet dank eines stärkeren Heckmotors und eines 2-Gang-Getriebes (ähnlich wie im Porsche Taycan) brutale 918 PS (675 kW) und 985 Nm Drehmoment. Er katapultiert die 2,6 Tonnen in 2,95 Sekunden auf 100 km/h. Der “R” verfügt zudem serienmäßig über alle fahrdynamischen Register: Aktive Wankstabilisierung, Hinterachslenkung und einen “Track Mode”.
Merkmal | Lotus Eletre R (2025) | Porsche Cayenne Turbo GT | Tesla Model X Plaid |
Leistung | 918 PS (675 kW) | 659 PS (485 kW) | 1.020 PS (750 kW) |
0-100 km/h | 2,95 s | 3,3 s | 2,6 s |
Leergewicht (DIN) | ca. 2.640 kg | ca. 2.220 kg | ca. 2.455 kg |
Antriebskonzept | E-Motor (Dual), 800V | V8-Biturbo | E-Motor (Tri), 400V |
Nürburgring-Zeit | 7:55 min (SUV-E-Rekord) | 7:38 min (SUV-Rekord) | n.v. |
Alleinstellungsmerkmal | LIDAR-System, 800V | Fahrdynamik (Verbrenner) | Beschleunigung, Yoke-Lenkrad |
Wie schlägt sich die 800-Volt-Architektur bei Reichweite und Ladeleistung?
Hier liegt die absolute Stärke des Eletre. Unabhängig von der Motorisierung verbaut Lotus eine gigantische 112-kWh-Batterie (netto nutzbar). Das ist einer der größten Akkus auf dem Markt und die Basis für eine solide Praxisreichweite. Die 612-PS-Modelle erreichen eine WLTP-Reichweite von bis zu 600 km, der Eletre R kommt auf 490 km. Im realen Autobahnbetrieb (ca. 130 km/h) sind für den Eletre R immer noch realistische 380–420 Kilometer drin, was für ein Fahrzeug dieser Leistungsklasse ein hervorragender Wert ist.
Der entscheidende Vorteil ist die 800-Volt-Architektur. Sie ermöglicht eine Ladeleistung von theoretisch bis zu 420 kW, in der Praxis sind an 350-kW-HPC-Ladesäulen (z.B. Ionity) über 300 kW Ladeleistung stabil erreichbar. Mini-Fallstudie: Der Ladestopp
- Problem: Der Akku ist auf 10 % gefallen, ein dringender Folgetermin wartet.
- Aktion: Anschluss an eine 350-kW-HPC-Ladesäule.
- Messbares Ergebnis: Der Eletre lädt in unter 20 Minuten von 10 % auf 80 % nach. Das ist einer der absolut besten Werte auf dem gesamten Markt und macht den Eletre zu einem der schnellsten Langstrecken-E-Autos überhaupt.
Ist der Eletre noch ein echter Lotus? Eine Analyse der Fahrdynamik.
Das ist die Kernfrage. Die Antwort ist ein klares: Jein. Wer das analoge, messerscharfe und rohe Gefühl einer Elise erwartet, wird tief enttäuscht. Der Eletre ist ein 2,6 Tonnen schwerer Koloss. Doch was die Lotus-Ingenieure (und ihre Geely-Kollegen) getan haben, um die Physik auszutricksen, ist ein Meisterwerk der Fahrwerkstechnik.
Der Eletre R bekämpft sein Gewicht mit einem Arsenal an aktiven Systemen:
- Aktive Luftfederung: Passt die Bodenfreiheit und Härte in Millisekunden an.
- Aktive Wankstabilisierung (48-Volt-System): Elektromotoren an den Stabilisatoren “drücken” die Karosserie in der Kurve aktiv nach unten und verhindern jegliche Seitenneigung.
- Hinterachslenkung: Lenkt die Hinterräder mit (bis zu 5 Grad), um den Radstand virtuell zu verkürzen (agiler) oder zu verlängern (stabiler).
- Torque Vectoring: Verteilt die Kraft intelligent zwischen den Rädern für maximale Traktion.
Anekdote: Der R-Modus Ich werde den Moment nie vergessen, als ich den “Track Mode” auf einer Teststrecke aktivierte. Der Wagen senkt sich ab, das Ansprechverhalten wird brutal. Man steht auf dem “Gas”, und statt eines V8-Gebrülls herrscht fast Stille – nur ein hohes Surren. Der Kopf wird einem derart in die Nackenstütze geschleudert, dass es einem den Atem raubt. Beim Anbremsen auf die erste Kurve spürt man die Masse, doch in dem Moment, in dem man einlenkt, fühlt es sich an, als würde eine unsichtbare Hand den Wagen stabilisieren und flach auf die Straße pressen. Es ist kein “Lotus-Gefühl” im klassischen Sinne. Es ist ein neues, digitalisiertes und brutal effektives Fahrgefühl.
Die andere Seite der Medaille: Was ist das stärkste Argument GEGEN den Eletre?
Das stärkste Gegenargument ist die technische und emotionale Entwurzelung. Der Eletre ist ein herausragend gutes Elektro-SUV, aber er ist auch ein Produkt des Geely-Konzerns. Er teilt sich seine technische Basis (die LEVA-Plattform) mit anderen Modellen des Konzerns (wie Polestar und Zeekr). Obwohl Lotus die Plattform massiv für seine Zwecke angepasst hat, fehlt dem Eletre die Einzigartigkeit, die “maßgeschneiderte” Anmutung, die einen Porsche Cayenne auszeichnet. Man kauft ein brillantes Stück Technik, aber die Seele und die Geschichte der Marke Lotus sind nur noch ein Marketing-Aufkleber.
Tipp von Alex Wind: Lassen Sie sich nicht von den 918 PS des “R” blenden. Für den Alltag ist der 612-PS-Motor im Eletre S mehr als ausreichend und bietet dank der identischen 800V-Architektur dieselbe phänomenale Ladeleistung und eine höhere Reichweite. Der “R” ist ein reines Statement-Car.
Der evolutionäre Weg: Wie kam es vom Leichtbau-Sportwagen zu diesem Hyper-SUV?
Der Eletre ist das Ergebnis einer harten, aber notwendigen wirtschaftlichen Realität. Lotus war unter wechselnden Besitzern jahrzehntelang chronisch unterfinanziert und stand mehrfach vor dem Ruin. Die brillante, aber veraltete Elise-Plattform konnte die Marke nicht mehr ernähren. 2017 kaufte der chinesische Geely-Konzern die Mehrheit an Lotus.
Geely tat, was Porsche in den 90er Jahren mit dem Cayenne tat: Sie nutzten die Kernkompetenz (Fahrdynamik) und den Markennamen, um ein SUV für den Massenmarkt zu bauen. Der Eletre (und die kommende Limousine Emeya) sind die “Cayennes” von Lotus. Sie sind dazu da, Geld zu verdienen. Sehr viel Geld. Dieses Geld soll das Überleben der Marke sichern und – so das Versprechen – die Entwicklung echter, leichter Elektrosportwagen in der Zukunft querfinanzieren. Der Eletre ist also nicht die Fortführung der Lotus-Philosophie, sondern der finanzielle “Opfergang”, der nötig ist, um diese Philosophie überhaupt am Leben zu erhalten.
























